Fast wie ein Krimi
Martin Luther schreibt den Evangelischen in Venedig 1543 in einem Sendschreiben hocherfreut, dass er nie damit gerechnet habe, dass sich seine Lehre sogar im Lande des Papstes so schnell ausbreiten werde.
Tatsächlich fällt die Botschaft der Reformation in Venedig auf fruchtbaren Boden - in der Weltstadt, seit jeher international, in der man offener für Neues ist als anderswo, pragmatischer
auch und toleranter, sofern neue Gedanken nicht das Geschäft stören und wo gerade Ausländer als gern gesehene Handelsleute nicht selten einen besonderen Schutz genießen.
Und von Rom lässt man sich ohnehin ungern Vorschriften machen...
Was nicht heißt, dass der lange Arm der Inquisition nicht auch bis zur Lagune reicht.
Den italienischen Sympathisanten der Reformation wird recht schnell der Garaus gemacht und manch einer wird in der Lagune versenkt.
Die Ausländer haben es besser, besonders die Deutschen als wichtige Handelspartner.
In ihrem Sitz mitten im Herzen der Stadt am Rialto kann sich so ein gottesdienstliches Leben entfalten, das allerdings immer gefährdet ist und die Gemeinde zu den entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen greifen lässt.
Immerhin, im Schutz des Handelshauses (Fondaco dei tedeschi) existiert sie relativ ungefährdet bis zum Ende der Republik Venedig. Immer wieder gibt es allerdings Reibereien mit katholischen Priestern, oft wegen Beerdigungen oder Taufen – allerdings auch Zeichen von erstaunlicher ökumenischer Weite.
Bis zur Einführung von Zivilstandsregistern durch Napoleon dienten die Kirchenbücher als solche – natürlich nur die katholischen. Auch Kinder von evangelischen Eltern wurden dort
registriert.
Als dem evangelischen Kaufmann Heinzelmann ein Sohn geboren wird, weigert sich der Ortsgeistliche ihn zu taufen, weil er nur evangelische Paten hat. Der Vater beschwert sich daraufhin direkt beim Patriarchen, der die Taufgesellschaft ins Patriarchat bestellt, über die Kleinlichkeit mancher Gemeindepfarrer den Kopf schüttelt und das evangelische Kind höchstpersönlich tauft – mit zwei evangelischen Paten!
Mit dem Einmarsch Napoleons 1797 kommt die Gemeinde aus der Illegalität heraus, aber der „deutschen Nation“ wird ihr Handelshaus enteignet.
Die Gemeinde kann damit zwar an die Öffentlichkeit, aber sie hat keinen Versammlungsort mehr.
1813 erwirbt der Kaufmann Heinzelmann – eben jener Täufling des Patriarchen - das leerstehende Gebäude der ehemaligen katholischen Bruderschaft „Zum Heiligen
Schutzengel“ und schenkt es der Gemeinde.
Als Venedig an die Österreicher fällt, ist es mit der Freiheit allerdings erst einmal wieder vorbei: Die Gemeinde darf ihre eigene Kirche nur durch einen Hintereingang betreten, nur auf
Deutsch predigen und muss die Stolgebühren an die katholische Kirche abführen. Erst mit der Unabhängigkeit Italiens 1866 fallen die Einschränkungen und die Gemeinde kann ihre Kirchentür
öffnen.
Heute lebt Venedig fast ausschließlich vom Tourismus. Eine Stadt von nur noch 60.000 Einwohnern muss Jahr für Jahr ca. 22 Millionen Touristen verkraften.
Die evangelische Gemeinde ist sehr klein und ihre Kirchentüren sind daher längst nicht immer geöffnet. Aber sie trifft sich nach wie vor - seit nunmehr fast 200 Jahren in ihrer
Kirche „Zum Heiligen Schutzengel“.
Heute ist sie keine „Auslandsgemeinde“ mehr, sondern Teil der„Evangelisch-Lutherischen Kirche in Italien“, auch wenn meist noch Deutsch gesprochen wird,
auch im Gottesdienst. Und in der lebhaften ökumenischen Szene der Stadt hat sie ihren festen und anerkannten Platz.
(nach Almut Kramm)
Neuer Führer durch die Kirche
Ein kleines Büchlein über unsere Gemeinde ist nun in der Reihe „Kleiner Kunstführer“ im Verlag Schnell & Steiner aus Regensburg erschienen. Er liegt in deutscher und italienischer Sprache vor und ist reich bebildert mit Fotos der Venezianer Elio und Andrea Trevisan (Vater und Sohn). Der handliche Führer von 36 Seiten fasst die Anfänge der Gemeindegeschichte zusammen, beschreibt die Kunstwerke in der Kirche und zeigt auch neuere Entwicklungen in der Gemeinde. Besonders die ansprechende graphische Gestaltung verschafft schnell einen Überblick und lädt ein zum Stöbern. Der Kleine Kunstführer ist auch im Buchhandel für 3,50 € zu erwerben oder direkt bei uns, venezia@chiesaluterana.it, portofrei ab 2 Ex.
200 Jahre am Campo Ss. Apostoli
Literatur:
Stefan Oswald: Die Inquisition, die Lebenden und die Toten. Venedigs deutsche Protestanten. 1989.
Marlis Schleissner-Beer: Die Deutsche Schule in Venedig - ihre Relation zur ev.-luth. Gemeinde A.C. 2013. (in der Gemeinde für 20,- zu erwerben).